9.

Lila schlug die Augen auf. Sie versuchte, im Dämmerlicht des Gästezimmers die Uhrzeiger zu erkennen. Viertel nach elf vormittags! Das Zimmer glich einem Zelt aus Tausendundeiner Nacht. Eine Orgie in Seide. Es fehlte weder an Kamelsätteln noch Messinglampen.

Lila rührte sich nicht. Sie versuchte sich zu besinnen. Entsetzen überfiel sie wie eine Woge. Also verdrängte sie die Erinnerungen.

Die Tage und Nächte verschmolzen scheinbar zu einem einzigen brennenden Schmerz, unterbrochen von tiefen Schlafphasen, die Lila wie eine Gnade empfand. Erst als sie den Kopf bewegte, merkte sie, daß ihr Kissen feucht war. Sie hatte in der Nacht geweint. Mühsam versuchte sie sich darüber klarzuwerden, ob es Dienstag oder Mittwoch war.

Wie lang bin ich eigentlich schon hier? fragte sie sich. Sieben, vielleicht acht, nein, neun Tage! Vor neun Tagen war sie aus dem Haus ihrer Mutter zu Tante Robbie gerannt. Plötzlich hatte sie Kevin wieder vor Augen, wie er sich über den Tisch beugte. Rasende Kopfschmerzen meldeten sich schlagartig zurück. Die quälten Lila seit Tagen. Sie dachte an die tierischen Laute aus Kevins Mund, sah wieder alles vor sich. Übelkeit stieg in ihr hoch. Sie schluckte hastig, um nicht erbrechen zu müssen.

Vom anderen Ende des Bungalows, den Tante Robbie im Benedict Canyon gebaut hatte, näherte sich ein leises Surren. Lila kannte das Geräusch. Plötzlich verstummte es. Lila hörte, wie Tante Robbie den Türgriff hinunterdrückte und die Tür aufstieß. Es mußte Robbie sein, denn José, Tante Robbies Hausbursche, stellte das Frühstückstablett normalerweise vor der Tür ab.

»>Suffering was the only thing made me feel I was alive<«, sang Robbie mit tiefer Stimme. Nur die Schmerzen sagten mir, daß ich noch lebe. Robbie hielt ein chinesisches, rotgelacktes Frühstückstablett in Brusthöhe und stellte es auf einem niedrigen Tisch aus gehämmertem Messing ab. Er rollte zum Fenster und zog die Gardinen zurück, so daß das Zimmer von Sonne überflutet wurde. Wieder sang er die Zeile aus Carly Simons Song: »Suffering was the only thing made me feel I was alive.«

»Hör auf, geh!« wimmerte Lila.

»Komm schon, Schwester Miseria. Novena ist um. Neun Tage wegen eines Mannes jammern und wehklagen, das reicht. Mehr billigt Gott dir nicht zu.« Überraschend behende setzte Robbie sich auf den Kamelsattel. Sein großblumiger Seidenkaftan legte sich in üppigen Falten um seine Beine und verhüllte die Rollschuhe an seinen Füßen. Auf die Frage, warum er sich mit Vorliebe auf Rollschuhen fortbewegte, hatte er Lila einmal geantwortet: »Das verschafft mir ein Gefühl der Schwerelosigkeit.« Robbie schmunzelte jetzt. »Also erheb dich. José hat das Frühstück auf meinen Wunsch hin speziell für dich zusammengestellt.« Er schenkte den starken schwarzen Kaffee aus einem kleinen antiken Samowar — angeblich das Geschenk seines ersten Freundes — in eine hauchdünne Porzellantasse.

Da Lila sich nicht rührte, schlug er mit einem Klöppel auf einen Tempelgong aus Messing. Lila zuckte zusammen. »Nun hör mir mal zu, liebe Freundin. Du bewegst deinen Hintern jetzt sofort und kommst hierher.« Er wies auf die gefüllte Kaffeetasse.

Ihr Kopf schmerzte nach dem hallenden Gong noch mehr. »Wie kannst du mir das antun, Tante Robbie? Bitte!« flehte Lila.

»Hör mit der Winselei auf. Es wird für uns beide Zeit, daß wir uns ein bißchen unterhalten.« Er klopfte auf ein Kissen auf dem Boden neben ihm. »Setz dich neben deine alte, aber so umwerfend attraktive Tante.«

Lila erhob sich seufzend. Der Weg bis zu dem Kissen fiel ihr schwer. Sie sank darauf, legte aber gleich die Hände vor das Gesicht und weinte. »Robbie, ich halte das einfach nicht länger aus.«

Robbie ließ sie weinen, bis sie von sich aus die Tränen mit dem Ärmel des Frisiermantels abwischte, den er ihr am Tag ihrer Ankunft bei ihm gegeben hatte. Sie trank einige Schlucke Kaffee. »Was soll ich nur tun?« fragte sie zum tausendsten Mal in diesen neun Tagen.

»Es kommt darauf an, was du willst«, erwiderte er. Tante Robbie berührte Lilas Kinn mit einem kurzen Würstchenfinger. An diesem Tag hatte er seine Fingernägel blutrot lackiert. Lila wußte, daß Robbie sie mochte, obwohl sie vor seiner Berührung zurückschrak, wie übrigens vor der Berührung jedes Menschen. Doch an seiner sanften Stimme und seiner zarten Geste merkte sie, daß er sich um sie sorgte.

»Mein liebes Kind, ich weiß, wie hart dich das getroffen hat und wie sehr es dich aufwühlt. Aber du brauchst deswegen nicht zu zerfließen. Es ist mir völlig ernst: Neun Tage sind genug.« Robbie stand auf und rollte zum Fenster. »Du hast das Zimmer noch kein einziges Mal verlassen, seit du hergekommen bist.«

»Ich hasse sie«, stieß Lila hervor.

Robbie drehte sich zu ihr um.

»Sie hat diese Heirat eingefädelt. Meine eigene Mutter! Sie sagte, er würde mir nie zu nahe treten. Aber sie hat nicht gesagt, warum. Bevor ich da reinging und die beiden sah, wußte ich nicht, daß er...« Lila sprach nicht weiter. Sie wollte Tante Robbie nicht kränken, obwohl sie wußte, daß sie ihm gegenüber kein Blatt vor den Mund nehmen mußte. »Du weißt schon. Es war nicht nur ekelhaft, sondern auch verlogen. Er hatte doch gesagt, daß er mich liebt.«

»Vielleicht tut er das sogar. Es gibt verschiedene Arten von Liebe.« Robbie stand jetzt vor dem hohen Spiegel und zupfte sein rotgefärbtes Haar zurecht. »Wenn ich mich jedes Mal ins Bett verkriechen würde, wenn einer meiner Freunde in Nachbars Garten nascht, befände ich mich als unheilbarer Fall in der Psychiatrie.« Er drehte sich auf seinen Rollschuhen um die eigene Achse und betrachtete sich dann wieder im Spiegel. »Im Grunde bin ich längst reif für die Psychiatrie, aber du wirst schon wissen, was ich damit andeuten wollte.«

Lila verließ den Platz auf dem Kissen und setzte sich auf einen Stuhl vor dem Toilettentisch. Sie starrte in den dreiteiligen Spiegel und begann, ihr verfilztes, rotes Haar zu bürsten, das sonst so schön seidig war. »Was ich nicht verstehe«, sagte sie, »ist, daß meine eigene Mutter absolut keine Rücksicht auf meine Gefühle nimmt. Sie hat mich zu dieser Verlobung offenbar nicht meinetwegen gedrängt.«

Tante Robbie hatte seinen Platz am Fenster verlassen. Er saß nun mit übereinandergeschlagenen Beinen auf dem Bett und wippte mit einem berollschuhten Fuß auf und ab.

»So was nennt man Narzissmus«, antwortete Robbie. »Ich kenne deine Mutter schon sehr lang, und ich liebe sie auch, aber gemocht habe ich sie nicht immer. Immerhin mußt du daran denken, Lila, daß es Gründe gibt, warum die Menschen so sind, wie sie sind. Weißt du etwas über ihre Kindheit?«

»Verschon mich mit diesem Schwachsinn. Müssen wir jetzt darüber sprechen, wie sie zu ihrem ersten Vorsprechen in L.A. barfuß durch den Schnee stapfte?« wehrte Lila sich gereizt.

»Weißt du, man kann nur eine gute Mutter oder ein guter Vater sein, wenn man selbst gute Eltern hatte. Die hatte deine Mutter nicht. Darum hat sie dich so großgezogen, wie sie ihre Karriere aufgebaut hat: Indem sie sich auf den Hosenboden setzte und sich anstrengte.« Lila stand wütend auf und wollte zur Tür gehen. Robbie hielt sie zurück. »Jetzt wartest du gefälligst. Glaubst du denn, daß du ein Kind besser erziehen kannst als sie es gemacht hat, Lila? So, wie du aufgewachsen bist?«

»Ich werde keine Kinder haben.«

»Aber wenn du welche hättest?«

»Ich denke mir, daß ich es besser machen würde«, behauptete Lila.

»Eben. Das hat auch Theresa gedacht. Und sie hat es auch besser gemacht als ihre Eltern.« Robbie stand auf. Er rollte wieder zum Fenster und öffnete es. Im Garten reinigte sein Liebhaber Ken den Swimmingpool. Ken trug nur einen winzigen fleischfarbenen Badeslip. Robbie rief Ken zu: »Mary, hab ich dir nicht schon hundertmal gesagt, du sollst nicht diesen Fetzen anziehen? Du siehst ja grotesk aus.« Robbie wandte sich wieder Lila zu.

Die mußte lächeln. Ken fuhr mit dem Poolsauger langsam über die Wände des Beckens, als hätte er Robbie nicht gehört. Er war nicht allein. Doch Lila konnte nicht sehen, wer ihm Gesellschaft leistete.

»Sieh dir das an, Lila!«

»Als hätte ich Ken nicht schon mehr als einmal in dieser Badehose gesehen! Laß ihn doch in Ruhe. Der hört sowieso nie auf dich. Das weißt du genau.« Sie musterte Robbies Aufmachung kritisch und lachte. »Und du sagst, er sähe grotesk aus? Was ist denn mit dir?«

»Du sollst dir nicht Ken ansehen, sondern das Mädchen, das auf der Liege sitzt und mit Ken spricht.«

»Du meinst das kleine schwarze Kind?« fragte Lila.

»Das ist Simone Duchesne, Star der Fernsehshow Opposites Attract. Gegensätze ziehen sich an. Und sie ist kein Kind. Sie ist zweiundzwanzig.«

»Das ist Simone Duchesne? Ich dachte Simone sei so alt wie das Kind, das sie spielt, etwa sechs oder sieben.«

Robbie seufzte. »Ja, das glauben alle. Sie sieht nur wie ein Kind aus. Sie hat einen gutartigen Tumor an ihrer Nebennierenrinde. Dadurch wurde ihr Wachstum gebremst. Man hätte den Tumor leicht chirurgisch entfernen können, nachdem er entdeckt worden war. Doch ihre Eltern, die Simone auch managen, haben die Operation abgelehnt. Nun ist es zu spät.«

»Warum?« fragte Lila, doch ein ungutes Gefühl in der Magengrube sagte ihr, daß sie die Antwort schon kannte.

»Angeblich, weil sie kein Geld für die Operation hatten. Doch wäre Simone normal gewachsen, wäre sie zu groß für die Fernsehrolle geworden. Die Eltern entschieden sich für das Geld.«

»Armes Kind, ich meine, arme Frau.« Lila fröstelte. »Ist sie nun hinter Ken her?«

»Nein, nein. Sie ist geschlechtslos«, stellte Robbie richtig. »Auch das haben ihr die Eltern genommen, indem sie die Operation ablehnten. Simone hat sich Ken angeschlossen und folgt ihm wie ein Hündchen. Du weißt ja, wie gut Ken zuhören kann. Sie haben sich bei einer Show kennengelernt. Ken machte die Beleuchtung. Sie wird nie für eine andere Rolle einen Vertrag bekommen. Was für ein Leben!«

Lila schwieg tief betroffen.

»Es gibt Schlimmeres, als das Kind eines Stars zu sein. Zum Beispiel: Kinderstar zu sein. Simones geldgierige Eltern haben sie ihres Wachstums, ihres Geschlechtslebens und ihres Geldes beraubt. Von Ken weiß ich, daß Simone neuerdings einen Anwalt konsultiert. Der hat auch schon eine Klage gegen die Eltern eingereicht. Doch wie der Fall auch ausgehen mag, Simone wird immer die Verliererin bleiben.«

»Ich kann mir denken, wie ihr zumute ist«, flüsterte Lila.

»Ts, Ts. Meinst du wirklich, Miss Selbstmitleid? Sieh dich im Spiegel an. Nein, ich meine nicht deine verquollenen Augen und deine Blässe. Das verschwindet in zwei Stunden wieder. Sieh dich richtig an. Was siehst du da? Keine schwarze Zwergin, oder?«

Lila betrachtete sich. »Ich weiß, daß ich schön bin, Tante Robbie, und daß die Männer hinter mir her sind. Aber ich möchte nichts mit ihnen zu tun haben.«

»Magst du Mädchen?« fragte Robbie mitfühlend.

Lila schauderte. »Nein, ich hasse Frauen.«

Robbie wiegte bedenklich den Kopf. »Bleibt nicht viel übrig, wie? Falls es dir ein Trost ist: Du stammst aus einer Familie mit einer langen Tradition von Geschlechtsproblemen. Dein Vater war der einzige Mann, den ich wirklich geliebt habe — womit ich Ken nicht kränken will. Aber dein Vater wußte selbst nicht, was er wollte. Der hat sich durch ganz Hollywood geschlafen. Weiblich oder männlich. Theresa war diejenige, die in der Familie die Hosen anhatte. Du könntest von ihr lernen. So ausgebufft wie sie ist, hat sie eine gute Entscheidung getroffen: Sie hat erkannt, daß ihr Mann sie immer unglücklich machen würde. Die Konsequenz, die sie daraus für dich zog, gefällt mir nicht, doch sie hat ihr geholfen, bei Verstand zu bleiben. Weil sie merkte, daß ihr Liebesleben sie nicht ausfüllen würde, beschloß sie, ihre Karriere zu ihrem Liebeslebenersatz zu machen. Dieses Ziel verlor sie nicht mehr aus den Augen. Wie ist das mit dir, Lila? Was erwartest du dir eigentlich von deinem Leben?«

Lila schwieg lange, bevor sie erwiderte: »Ich will von allen geliebt werden, aber nur aus der Entfernung.«

Die schoenen Hyaenen
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